Hallo alle zusammen.
Wenn man sich so das Verzeichnis der Reiseberichte hier im Forum betrachtet, dann kommt man wohl oder übel zu dem Schluß, dass ihr euch gegenseitig ganz schön arg mit roten Steinen bewerft.
Kurzum: wir glauben, es ist an der Zeit, mal eine andere Facette dieses großartigen Landes vorzustellen.
Wir möchten euch nach Alaska mitnehmen.
Wir werden aber nicht in einem Mietwagen reisen, folglich können uns die Benzinpreise völlig schnuppe sein.
Auch werden wir 23 Tage kein festes Dach über dem Kopf haben. Eine Kreditkarte wird ebenso überflüssig sein wie Bargeld.
Es wird keine vorgebuchten Motels oder Restaurantbesuche geben...und auch keine roten Steine.
Sooo, den beiden, die jetzt noch interessiert sind, ein herzliches Willkommen zu unserem kleinen Reisebericht!
Vorgeschichte:
Unserem Abenteuer geht eine Geschichte voraus, die ihren Ursprung bereits im Jahr 2004 hatte.
Damals waren wir ebenfalls in Alaska unterwegs. Durch mehrere glückliche Zufälle und Fügungen hatte es uns nach Juneau verschlagen. Wie die ganze Reise selbst, ging auch diesem Ausflug keinerlei großartige Planung voraus, er war vielmehr das Ergebnis einer spontanen Idee und einer ordentlichen Portion Glück am Ticketschalter der Fährschifflinie.
In Juneau blieben wir drei Tage. Wir besuchten den Stadtpark mit seinem riesigen Gletscher, bummelten an der Waterfront entlang und unternahmen eine kurze Wanderung durch den allgegenwärtigen Regenwald. Insgesamt erlebten wir Alaskas Hauptstadt als kleine, lebhafte und durchaus moderne Metropole, die in großartige Natur eingebettet liegt, der aber ein fieser Dauernieselregen etwas den Reiz raubt.
Am zweiten Tag unseres Aufenthaltes schien unser Schicksal wiederum von süßen Engeln gelenkt, denn wir erbeuten auf einem bereits ausgebuchten Ausflugsschiff zwei Tickets für eine Fahrt zu einem weit südlich gelegenen Fjord.
Auch an diesem Tag blies das Wetter in Juneau wieder Trübsal, doch kaum hatten wir die letzten versprengten Häuser hinter uns gelassen, klarte es zunehmend auf. Wir sicherten uns einen Platz auf dem Oberdeck und ließen uns den eisigen Fahrtwind um die Nase wehen. Das Blau des Pazifiks war so rein und klar und rings um uns herum garnierten kleine, bewaldete Inseln das Meer.
Möwen umkreisten lauthals kreischend das Schiff, als warteten sie darauf, dass wir endlich unsere Netze hievten und sie sich an dem Fang gütlich tun konnten. Schulen von Buckelwale tauchten wie in Zeitlupe vor uns auf, stießen geräuschvoll ihren Blas aus und verschwanden so schnell wie sie gekommen waren in den Tiefen des Ozeans.
Der Küstenstreifen war schmal und felsig und allerorten lagen Unmengen von hellbraunen Treibholz herum. Von der Kraft der Brandung wüst durcheinander geworfen, verwoben und in sich verkeilt. Ab und an knickte die Uferlinie scharf ab und bildete eine breite, stille Bucht, die sich weiter in einem langen, schmalen Fjord streckte. Verwunschene Halbinseln umgaben diese Buchten, manche waren so winzig klein, dass gerade ein einzelner Baum auf ihnen Platz fand, dessen Stamm sich halbkreisförmig zur Wasserfläche hinunter neigte, als wolle er sich für seinen bevorzugten Standplatz dankbar erweisen.
Jenseits eines kiesigen Strandes begann der Urwald, dessen Konturen durch die Geschwindigkeit des Schiffes zu einer undurchdringlichen, ungemein vitalen, grünen Masse verwischt wurden. Von den höchsten Gipfeln der Bäume lugten wie kleine Wattebäusche die schneeweißen Köpfe der Weißkopfseeadler auf uns herab. Obwohl uns die majestätischen Vögel mit Sicherheit schon von Weitem gewahrten, überwanden sie doch ihre natürliche Scheu und verharrten auf ihren Plätzen.
Das alles machte auf uns den Eindruck einer absoluten Vollkommenheit. Wild, seit jeher ungezähmt und doch so ungemein friedlich. Eine Welt, scheinbar entrückt von der Realität, erhaben und wunderbar.
In Holkham Bay bog unser Schiff in einen lang gestreckten, verwinkelten Fjord ab. Hohe, glatt geschliffene Granitwände zogen langsam an uns vorüber. Das Meeresblau war einem geheimnisvollen Smaragdgrün gewichen, das besonders an Stellen, an denen die Strahlen der Sonne die Wasseroberfläche durchbohrten, in tiefer Reinheit leuchtete. Wir ließen den Blick über die spiegelglatte Bucht streifen und entdeckten die ersten kleinen Eisberge. Es waren eigentlich keine Berge oder groben Brocken mehr, eher kleine, zu fragilen Kunstwerken geschmolzene Skulpturen mit glasgleichen, dünnen Flanken und großen Einschmelzungen.
In langsamer Fahrt folgten wir dem Fjord, den das uns umgebende Gebirge zu einem schmalen Wassergraben zusammen zu pressen schien. Im Schatten der dunkelgrauen Berghänge war es düster und kalt. Aus dem vereinzelt umher treibenden Eis war inzwischen eine fast komplett geschlossene Decke geworden.
In den wenigen sichtbaren Waken wogte das Wasser widerwillig auf und ab und klatschte zähflüssig an den Rumpf unseres Schiffes, das seinerseits die immer größer werdende Eisbrocken mit spielerischer Leichtigkeit zur Seite schob.
Als wir die letzte rechtwinklige Kurve des Fjordes passierten, riss das muntere Geschnatter an Bord abrupt ab und die Passagiere erstarrten in ehrfürchtiger Stille.
Vor uns tat sich die eisige Front des Sawyer Gletschers auf, eine von beispielloser Selbstzerstörung heimgesuchte Wand aus Eis. Eine senkrechte Abbruchkante, übersät mit tiefen, dunklen Spalten und einem Labyrinth aus weit auf klaffenden Rissen.
Dahinter fraß sich der eisige Lindwurm, die umgebende Landschaft gnadenlos unter sich begrabend, in das Küstengebirge hinein.
Wo sich im Umkreis saftig grüne, almgleiche Wiesen an die Berghänge schmiegten, bedeckten die Randbereiche des Gletschers, wie die Abraumhalde einer Goldmine, Unmengen von Germerkel und Gesteinsschutt das darunter befindliche Eis, das seinerseits als Ausdruck seiner Reinheit und Stärke zwischen den Schotterbergen stahlend weiß aufblitzte.
Wie gebannt standen wir an Deck, ließen den Blick über die Bucht schweifen und konnten uns an dem sich vor uns auftuenden epischen Naturtheater nicht satt sehen.
Wir entdeckten auf der rechten Seite einen Bereich mit gefährlich anmutenden Seracs, bläulich schimmernde Eissäulen, die aneinander gelehnt sich gegenseitig zu stützen schienen. Linkerhand war das Eis eher rund und muschelförmig aus der Gletscherfront heraus gebrochen und erweckte so ein Gefühl trügerischer Sicherheit.
All das wurde jedoch von einem Farbspiel getoppt, das an der Stelle entstanden war, an der die Eisschicht am dicksten und folglich der Druck am höchsten war. Das Eis wies hier eine Blautönung auf, die derart intensiv und nuancenreich war, dass weder das satt leuchtende Meeresblau noch die reinen Farben eines klaren Herbsthimmels ihm hätte das Wasser reichen können. Unter Tonnen von Eis begraben, definierte sich hier, fernab jeglicher Zivilisation, verborgen in einem riesenhaften, dichten Urwald, am Ende eines versteckten Fjordes, die Farbe Blau auf eine ganz zauberhafte Weise neu.
“Moments Of Rapture” nannte der große, amerikanische Naturfotograf Anselm Adams derartige Augenblicke in der Natur. In der Tat empfinden wir dies als Momente der Verzückung, der Ehrfurcht und auch der Dankbarkeit, ein Spektakel wie dieses mit eigenen Augen sehen zu dürfen.
Das eine derartige Gefühlsduselei eine rein menschliche Angelegenheit ist, offenbart sich beim Anblick der faul und träge herum liegenden Pelzrobben, die dutzendfach die Eisschollen belagern.
Mit einer offen zur Schau gestellten Ignoranz, drehten die meisten der Tiere noch nicht einmal den Kopf, selbst wenn wir ganz dicht an ihnen vorbei getrieben kamen. Doch im Juni ist auch in Robbenkreisen die Zeit des Nachwuchses gekommen. Und so war uns wenigstens die Aufmerksamkeit der kleinen, plüschigen Nackenrollen mit ihren großen, schwarzen Knopfaugen sicher. Kamen wir ihnen zu nahe, ließen sie sich behände über den Rand der Eisscholle gleiten, nur um sekundenspäter aufzutauchen und neugierig nach dem großen, weißen Ungetüm, das unser Schiff aus Robbenperspektive zweifellos darstellte, zu starren.
Der Kapitän unseres Schiffes schlenderte langsam über das Deck, zufrieden mit den Reaktionen, die die Natur auch an diesem Tag wieder unter seinen Passagieren hervorgerufen hatte, als etwas ganz wunderbares geschah: aus den umliegenden Wäldern schwebte ein Weißkopfseeadler herab, lies sich lautlos auf der Spitze eines großen Eisberges nieder und hoffte darauf, einer dösenden Robbe etwas von ihrer mühsam gefangenen Beute streitig machen zu können. Diese kleine Begebenheit lies sogar unseren Kapitän verzückt innehalten. Mit einem Lächeln blieb er stehen und genoss wie alle anderen an Bord dieses kleine, zauberhafte Geschenk der Natur.
Zwei Stunden ließen wir uns insgesamt von einer unsichtbaren Strömung an der Abbruchkante des Sawyer Gletschers entlang treiben, ehe die beiden starken Dieselmotoren geräuschvoll zu Leben erwachten, eine stinkende Abgaswolke in die Bucht pafften und die friedlich erhabene Stimmung mit einem Schlag zerstörten.
An diesem Tag wurde also diese ganz bestimmte Idee geboren, die ab sofort in unserem Gedächtnis schlummern sollte: wir würden die Gletscherwelt Südalaskas auf eigene Faust erleben, ohne Zeitdruck und allein. Kein schnatternder Haufen um uns herum, einfach nur wir zwei und die Stille und die Einsamkeit in der Natur.