Der PRINCE WILLIAM SOUND - Alaskas widerspenstiges Paradies

  • 24.Juli 2012


    Die Nacht war von einer geradezu gespenstischen Stille geprägt, sodass unsere Neugier am Morgen groß ist, was wohl jenseits der dünnen Nylonbahn des Zeltes auf uns warten würde.
    Zunächst schlägt uns kalte, feuchtigkeitsgeschwängerte Luft entgegen. Frierend treten wir von einem Fuß auf den anderen, während wir wohlwollend feststellen, das die grauen Wolkenmassen um mehrere Etagen höher als noch in den drei Tagen zuvor angesiedelt sind.
    Geheimnisvoll schimmerndes Eis treibt auf dem Fjord und mit ihm kommen Robben bis dicht an unser Ufer heran. Sie sind einerseits sehr scheu, andererseits sind sie aber auch mit einer gesunden Portion Neugier gesegnet, was sie uns, von Gewissenskonflikten geplagt, völlig reglos wie handballgroße Bojen mit schwarz- glänzenden Knopfaugen, argwöhnisch beobachten lässt. Bei der geringsten Annäherung unsererseits, ziehen die Tiere blitzschnell und elegant ihren Kopf ein und entziehen sich lautlos unseren Blicken, bis die Neugier wieder siegt.



    Nach dem obligatorischen Müslifrühstück, holen wir eine Mittagsration vom Bärenhang im Wald, schleppen das Boot den Strand hinab, verladen Kamera- und Fotoausrüstung und stechen tatendurstig in See.





    Selbstbildnis mit Eiswürfel


    Unser Weg führt uns einmal quer über den Harriman Fjord zu einem flachen, felsigen Uferstreifen, der von den Gezeiten zweimal täglich verschlungen und wieder freigegeben wird. Während der Niedrigwasserphase stranden hier hunderte von grazil geformten Eisbergen und ein Strandspaziergang kommt dem Wandeln durch die Galerie eines Bildhauers mit einer überschäumenden Kreativität gleich.



    Zwischen den kurzlebigen Kunstwerken liegen kleine, flache Salzwasserbecken, die von toten Bäumen mit bedrohlicher Gestalt umgeben sind. Diese hölzerne Statuen, die an enthauptete Skelette mit geborstenen Knochen erinnern, die sich aber dennoch ihre kerzengerade, aufrechte und stolze Haltung bewahren konnten, sind stumme Zeugen einer Naturkatastrophe, die am Karfreitag des Jahres 1964 über das Land hereinbrach, als hier im Prince William Sound, in der Tiefe des Meeres, die Pazifische und die Nordamerikanische Kontinentalplatte, wie zwei mächtige Titanen, ihre schuppigen Buckel aneinander rieben und dadurch das zweitgrößte je gemessene Erdbeben der Geschichte auslösten. Innerhalb der drei Minuten, die das zerstörerische Spektakel dauerte, sackte der Boden im Harriman Fjord um knappe drei Meter ab. An anderer Stelle im Sound hob sich die Erdkruste stattdessen um bis zu sieben Meter. Als finalen Akt dieser beispiellosen Machtdemonstration der Erdkräfte, jagte eine siebenundsechzig Meter hohe Tsunamiwelle über das Land, verschlang neben einem breiten Küstenstreifen auch die Orte Chenega und Valdez und richtete selbst in Anchorage einen beträchtlichen Schaden an.
    Wer in den zurückliegenden Jahren das hübsch gelegene Küstendorf Valdez besucht hat, war genau genommen in “New Valdez“, das nach dem als “Großes Alaska Beben” in die Geschichte eingegangenen Ereignis, an anderer Stelle neu wieder aufgebaut werden musste.

    Im Nachhinein stufte man das Karfreitagsbeben von 1964 mit 9,2 auf der viel bemühten Richterskala ein. (Stärker war nur ein Beben in Chile vier Jahre zuvor, das mit 9,5 angegeben wird. Das uns noch allen präsente Japan-Beben von 2011 erreichte 9,0.)


    Diese Bäume, vor denen wir nun stehen und die noch immer ihre kahlen Äste dem grauen Himmel entgegen recken, als wären sie in einer Haltung des Flehens um Gnade aus dem Leben gerissen worden, widerstanden der Wucht des Tsunamis.
    Dafür machte ihnen das Meerwasser, das seit dem Absinken des Geländes um ihre entblößten Wurzeln spült, den Garaus. Ihre mahnenden Überreste, vom Salz ausgeblichen, mit Muscheln und Algen übersät und mit Seetang behangen, trotzen bis heute den Widrigkeiten dieser unwirklichen Gegend und erinnern an das zerstörerischste Ereignis, das die Natur dieser Landschaft bislang aufbürdete.






    Wir verlassen den Strand der toten Bäume und paddeln näher an den Surprise Gletscher heran, der das Ende eines kurzen, trogförmig geformten Seitentals abriegelt. Als sich der Eisstrom in seiner ganzen Pracht präsentiert, bemerken wir mit Freude, dass die Sonne sich anschickt ihr Versprechen einzulösen und dem tristen Himmel, der sich in den letzten Tagen für unbesiegbar hielt, bereits ein großes Loch in den grauen Pelz gebrannt hat, das zusehends größer wird, wie eine beschlagene Scheibe wieder durchsichtig wird, wenn man einen Fön davor hält.
    Wir halten respektvollen Abstand zu haushoch aufragenden Brocken aus weißblau schimmernden Gletschereis, die uns mit gemächlichem Tempo entgegen treiben.



    In der Bucht vor dem Gletscher tobt das bunte Leben.
    Die Möwen haben ihre Stimme wieder erlangt und sorgen lauthals schreiend für reichlich Flugverkehr, die ewig müde wirkenden Pelzrobben dösen träge auf großen, flachen Eisbrocken herum, während die vor Lebensfreude überschäumenden Seeotter Treibeissurfing veranstalten, indem sie eine Scholle erklimmen, sich damit hinaus auf den Fjord tragen lassen, zurück schwimmen und das Spiel von vorn beginnen.
    Besonders ans Herz gewachsen ist uns aber eine kleine, schwarzweiß gefiederte Entenart, die ganz vorzüglich schwimmen und tauchen kann, in der Luft eine eher mäßige Figur abgibt, bei der Landung jedoch auf eine sehr komische Art und Weise versagt. Nach dem Motto: “Runter gekommen sind bislang alle!“, legen die Vögel kurz vorm Touch-down einfach ihre Flügel an und plumpsen hilflos vom Himmel, ein anderes Mal stimmt der Anflugwinkel nicht und es kommt beinahe zum Überschlag auf der Wasseroberfläche oder die Tiere schalten vom Flug- sofort in den Tauchmodus, ohne Landung zwischendrin.
    Es ist amüsant den kleinen Überlebenskünstlern zuzusehen.



    Wir landen an einem schmalen, verblockten Uferstreifen, von dem aus wir einen vorzüglichen Blick auf den Gletscher genießen können.
    Wir heben den Kajak aus
    dem Wasser, stellen uns dahinter in Pose und halten den Moment in einem Foto fest.
    Gipfelt doch genau in diesen Augenblick eine Idee, die wir seit über acht Jahren in uns tragen und nie aufgegeben haben: wir würden zu den Gletschern Alaskas mit unserem eigenen Boot reisen, ohne Zeitdruck und allein.

    Hier sind wir nun.
    Unser Kajak liegt uns zu Füßen, wir scheinen umgeben von schier grenzenloser Einsamkeit und hinter uns ragt die zerklüftete Front des Surprise Gletschers in einen inzwischen zauberhaft blauen Sommerhimmel.

    Eine Welle der Zufriedenheit und des Glückes überrollt uns.
    Wir haben unser Ziel erreicht.
    Wir spüren aber auch Erleichterung. Nach dem Debakel von 2010 haben wir uns unbewusst selbst einen gewissen Erfolgsdruck auferlegt, denn ein erneutes Scheitern hätte das unweigerliche Ende aller Pläne mit sich gebracht. Einen dritten Versuch hätte es wahrscheinlich nie gegeben.





    Um den Tag gebührend zu feiern, kochen wir uns einen herzhaften Gletschereintopf. Die Hauptzutat schwimmt massenhaft vor uns im Meer herum und ist garantiert uralt. Um die Frische müssen wir uns trotzdem keine Sorgen machen, die Kühlkette war während der vergangenen tausend Jahre nie unterbrochen.
    Dem Genuss wird schon bald Einhalt geboten, denn wir müssen feststellen, dass der von uns auserkorene Lunchplatz keine wirklich gute Wahl darstellt. Jeder noch so kleine Eiswürfel, der von der Gletscherfront in den Fjord bröckelt, verursacht an unserem Ufer einen ungezügelten Anstieg der zementgrauen Brühe.
    Wir müssen zusehen, dass wir schleunigst hier verschwinden.




    Doch ausgerechnet jetzt scheinen wir geradezu an unserem Strand gefangenen zu sein.
    Ein dichter Eisgürtel umgibt das Ufer, sodass es aussichtslos erscheint, überhaupt das Boot zurück ins Wasser zu bringen. Wir stochern noch etwas hilflos mit dem Paddel ein paar Brocken zur Seite, als wir zu allem Überfluss ein Motorengeräusch vernehmen müssen, das nur unserem “Lieblingsausflugsschiff” gehören kann. Jetzt muss es schnell gehen.
    Wir werfen den Kajak in eine für ihn viel zu kleine Lücke im Eis und schieben uns ohne Rücksicht auf Verluste durch einen Treibeis-Flash Mob, als säßen wir im kleinsten Eisbrecher der Welt. Der Bug des Kajaks stößt hart gegen die scharfkantigen Brocken, die daraufhin träge zur Seite trudeln und widerwillig den Weg freigeben. Kurze Zeit später können wir uns wohlbehalten aus der eisigen Umklammerung befreien, fahren erleichtert hinaus in offenes Wasser und stoppen erst, als wir mitten in der Bucht sind.




    In diesem Moment betritt auch unser Multiturbokatamaran-Goliath die Szene und muss augenblicklich erkennen, dass sich auf seinem Kurs ein Zwei-PS (Paddel-Stärke)-Falt-David in den Weg stellt, der keine Anstalten macht, das Feld zu räumen.
    Abrupt wechselt die Klondike Express von Voll- in Standgas, schlägt einen scharfen Haken und verkrümelt sich kleinlaut ins hintere Ende der Bucht.
    Wir können ein heimliches Gefühl des Triumphes nicht verleugnen.




    Zu fortgeschrittener Stunde kehren wir dem Surprise Gletscher den Rücken und paddeln zu einer waldseegleichen Lagune, die sich unterhalb des Serpentine Gletschers erstreckt und durch einen schmalen, nur wenige Meter breiten Landgürtel vom restlichen Fjord abgetrennt ist.



    Wir werden von einem hysterischen Gezeter empfangen, das von den wachtelgroßen, etwas plump wirkenden Austernfischern herrührt, die hier zwischen den Uferfelsen brüten. Das schwarze Federkleid der Vögel verschmilz geradezu mit den dunklen Steinen des Ufers.
    A
    llerdings passierte ihnen in der Vergangenheit ein kleiner Fauxpas: als die Evolution Schnäbel und Augen verteilte, entschieden sich die Oystercatcher für ein knalliges Rot, was die ganze schöne Tarnung mit einem Schlag zu Nichte macht.








    Wir fahren zum äußeren Rand der Lagune und genießen traumhafte Blicke über die Weiten des Harriman Fjord.
    Der Sommer ist zurück und mit ihm all das warme Licht, die intensiven Farben und Gerüche. Um uns herum erstreckt sich eine friedliche, erhabene Bergwelt, so rein und klar, als wäre sie einem großformatigen Bildband entsprungen.
    Wir können uns dieser Landschaft nicht entziehen, fühlen uns einsam, aber nicht allein, können den Blick nicht abwenden, sondern schauen und staunen über Stunden, bis länger werdende Schatten zu einer Heimkehr mahnen.



    Wir paddeln zurück in unser Lager und lassen im weichen Licht einer schnell tiefer sinkenden Sonne den Abend am Strand ausklingen.
    Ein kleiner Wal zieht schnaufend seinen Weg den Fjord hinauf und wir fragen uns mit einem zwinkernden Auge: “Wie will Alaska diesen Tag noch steigern?”

    • Offizieller Beitrag

    Ziel erreicht, Traum erfüllt. ;;PiPpIla;;


    dass sich auf seinem Kurs ein Zwei-PS (Paddel-Stärke)-Falt-David in den Weg stellt, der keine Anstalten macht, das Feld zu räumen.
    Abrupt wechselt die Klondike Express von Voll- in Standgas, schlägt einen scharfen Haken und verkrümelt sich kleinlaut ins hintere Ende der Bucht.
    Wir können ein heimliches Gefühl des Triumphes nicht verleugnen.


    Gewonnn, ein berauschendes Gefühl sicherlich. ;;NiCKi;:

  • Ich habe eben - im warmen Wohnzimmer sitzend - direkt neben der Heizung - den Bericht gelesen.
    Wieviele Schauer mir da über den Rücken gelaufen sind, kann ich wirklich nicht sagen.
    Und zwischendurch standen mir auch ein paar Tränen in den Augen..........


    In sooo schöne Worte wie Du kann ich es nicht fassen, also


    :wow::wow::wow::wow::wow:


    Danke für´s Zeigen einer so wunderschönen Landschaft, die ja auch so grausam sein kann.


    Liebe Grüße


    Doris

  • Mir fehlen die Worte, um das zu beschreiben, was ich beim Lesen empfunden habe. Mitleid, Bewunderung, Freude und zugleich immer wieder Respekt vor eurem Mut. Ich habe beim Lesen gefroren und zugleich freudig eure Begeisterung gespürt. Ich weiß, dass das nie im Leben meine Tour wäre und ich freue mich für euch, dass ihr so glückliche Momente erleben konntet/ durftet.
    Kompliment.

  • Selbstbildnis mit Eiswürfel


    Eiswürfel gab es ja genügend und vor allem so große, die euch gar nicht mehr aus dem Fjord entkommen lassen wollten. Ihr hattet euer Ziel erreicht und das Glücksgefühl ist super rübergekommen :clab: .


    LG,


    Ilona

  • 25.Juli 2012



    Wir sind hocherfreut zu sehen, dass sich die Bergwelt um uns herum, ihre jungfräuliche Anmut über die Nacht hinweg bis in den neuen Tag hinein bewahren konnte. Lediglich über der Eiskappe im Gipfelbereich des Mount Muir schmiegt sich ein zartes Wolkentuch, das federleicht und fragil zugleich wirkt.
    Das Wasser des Harriman Fjord ist ruhig und spiegelglatt , als wäre es im Schutze der Dunkelheit zu hellblauem Milchglas erstarrt.
    Ein einzelner Eisberg zieht leise glucksend seine Bahn. Sein Schmelzwasser rinnt in unzähligen, kleinen Rinnsalen an seinen Flanken herab, perlt sich beim ersten Kontakt mit dem salzigen Wasser des Meeres wie Champagner zu einem Heer aus winzigen Tröpfchen zusammen, um sich im Bruchteil einer Sekunde mit einem vielstimmigen Prickeln seinem Schicksal zu ergeben.
    Vielleicht werden seine Wasser irgendwann erneut zu Wolken kondensieren, schwer beladen landeinwärts ziehen, als Schnee herabfallen und zusammen gepresst, um anschließend ihre lange Reise als Gletschereis aufs Neue antreten. Ein ewig währender Kreislauf, der uns die Kurzlebigkeit unseres eigene Daseins vor Augen hält, die nichts weiter zu sein scheint, als eine Momentaufnahme in einem endlos andauernden Zyklus.




    Wir bestücken das Boot mit den Bedürfnissen des anstehenden Tages und fahren hinaus auf den ruhig atmenden Fjord. Vorsichtig stoßen wir die Paddel ins Wasser, als wollten wir das Spiegelbild der umliegenden Berge und Gletscher nicht zerstören. Auf eine seltsame Art und Weise fühlen wir uns heute mehr denn je als geduldete Eindringlinge. Wohin wir den Blick auch wenden, alles strahlt eine so perfekte Vollkommenheit aus, dass jedes neu hinzugefügte Teil nur als störend und überflüssig empfunden werden muss.






    Dieser Eindruck verstärkt sich noch, als wir auf eine quer über den Fjord verstreute Seeotterkolonie treffen, die sich ungewohnt reglos die wärmende Sonne auf den Bauch scheinen lässt. Obwohl wir unsere Paddel lautlos sinken lassen und so still und langsam wie möglich mit der Kraft einer kaum vorhandenen Strömung vorwärts treiben, stiften wir doch eine nicht zu übersehende Unruhe unter den Tieren und nur Sekunden später lässt ein unsichtbarer Impuls die pelzige Meute eiligst in den Tiefen des Fjordes verschwinden.









    Während der Harriman Fjord sich seiner eisigen Fracht über Nacht fast vollständig entledigt hat, ist der Barry Arm mit Treibeis regelrecht voll gestopft.
    Vor uns breitet sich ein Irrgarten aus, dessen Wege sich permanent verändern und ständig im Fluss sind.
    Mit ein paar paddlerischen Kunststückchen mogeln wir uns durch und erreichen an der Basis des Coxe Gletschers einen
    flachen Strand, an dem das Gebirge die Kraft des Eises zu spüren bekam und zu feinem, schwarzem Sand zermalmt wurde.


    Menü nach Art des Hauses: Gletschereis an Nudeln mit Putenstreifen und grünem Spargel. Der Einfachheit halber alles in einem Topf...


    Gegenüber unserer Position erblicken wir den Cascade Gletscher, beziehungsweise seinen erbärmlichen Rest.
    Alaska geht mit der Substanz seiner Gletscher geradezu verschwenderisch um.
    Kaum fünf Jahre ist es her, dass Cascade und Barry Gletscher sich noch als eine gewaltige Eisfront ins Meer ergossen, 2012 blicken wir auf eine schmutzige, dünn gewordene Eiszunge, die bereits viele Meter über dem Fjord endend, sich hilflos an den Fels zu klammern scheint, wie ein langsam aus dem Leben scheidender Drache, dem ein übermächtiger Gegner bereits vor geraumer Zeit den Kopf abgeschlagen hat. Nun rinnt ihm das Tauwasser wie Blut in Strömen aus dem Körper, 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche. Die vegetationslose Umgebung wirkt so trostlos, kalt und tot und erstreckt sich über fast eintausend Meter bis sie die eingefallenen Flanken des Barry Gletschers erreicht.
    Ein trauriger Anblick.
    So schön, wild und einsam sich diese Landschaft auch präsentiert, so entbehrt sie doch nicht einer gewissen Tragik.
    Alaska wird nie seinen Reiz, seine Anziehungskraft verlieren, doch an dem Tag, an dem sich seine mächtigen Gletscher zu kleinen Eisfeldern hoch oben in den Bergen gewandelt haben, wird es ärmer sein. Und leider stehen die Chancen nicht all zu schlecht, dass wir dies noch mit ansehen müssen…





    Auf die täglichen Dosis Zivilisation hätten wir heute gut verzichten können.
    Nachdem die Klondike Express unseren Blicken und Ohren entschwunden ist, heben wir das Boot zurück ins Wasser und zwängen uns auf einem Zickzack Kurs vor die Front des Coxe Gletschers.



    Plötzlich brechen auf der linken Gletscherseite einige Brocken von der Größe eines Kühlschranks heraus.
    Ich höre mich noch ein “Schnell, schau da drüben…” sagen, danach bleiben mir die Worte im Hals stecken.
    Ohne den Hauch einer Vorwarnung und bar jeden Geräusches kommt Leben in den Gletscher und eine gigantische Wand aus Eis sackt senkrecht nach unten ab. Erst jetzt rauscht ein gewaltiger Donnerschlag über uns hinweg, wird von der gegenüber liegenden Bergflanke zurückgeworfen und durchflutet das Tal mit tiefen Basstönen.
    Instinktiv ziehen wir den Kopf ein.
    Die Eismassen erreichen das Meer, das daraufhin über einen vorgelagerten Felsen schießt und einen angrenzenden Strand hinauf jagt, als würde es vor Wut schäumen.
    Auf unserer spontan eingerichteten “Hintern-vor-Schreck-zusammen-kneif-Skala” erreicht das Schauspiel aus dem Stand eine 8,6.

    Der Puls beginnt zu rasen, wir schicken ein schnelles Stoßgebet gen Himmel. Unsere Finger verkrampfen sich um den Paddelschaft, dass sich die Haut über die Knöchel der Hand wie weißes Pergament spannt. Mit hektischen Bewegungen versuchen wir so viel Eis wie möglich, soweit es geht von uns weg zu schieben.
    Wie konnten wir nur so leichtsinnig sein, wie konnten wir uns nur derart in Gefahr bringen.
    Niemals zuvor haben wir uns in unserem Boot so klein und dem Schicksal ausgeliefert gefühlt.
    Würde uns jetzt eine Welle in die eisige See reißen? Oder würde ein Eisbrocken das uns auf einmal so unglaublich spielzeughaft und zerbrechlich vorkommende Holzgerüst des Kajaks zertrümmern?
    Beides wäre der Supergau schlechthin.
    Nur Sekunden später ist die Welle da und plätschert um den Rumpf des Bootes mit einer Kraft, die eines Kindes ebenbürtig ist, das einen Bauchplatscher in ein Schwimmbecken macht. Verdattert schauen wir uns an und werden über Stunden aus dem Vorgang nicht schlau.


    Chronologie einer Schrecksekunde:



    Die ersten, harmlosen Brocken fallen...



    Anschließend gerät die linke Gletscherseite in Bewegung...



    ...und sackt...



    ...mit Wucht nach unten ab...



    ...reißt weiters Eis mit sich...



    ...und stürzt ins Meer...



    ...das daraufhin wütend spritzt und schäumt...




    ...und eine Welle in den Fjord hinaus schickt.


    Erst als wir am Abend zur Ruhe kommen, finden wir eine Erklärung, die uns plausibel vorkommt und mit der wir uns zufrieden geben können: unser Geist hat uns offensichtlich einen Streich gespielt. Ihm fehlte es an einem Anhaltspunkt, einem Größenvergleich. Hätte es ein Haus, eine Kirche oder einen Leuchtturm in der Nähe des Gletschers gegeben, hätten wir sofort registriert, dass wir uns noch weit außerhalb der Gefahrenzone aufhalten. So aber weigert sich das eigene Hirn die schiere Größe dieser Landschaft zu begreifen und lässt seine Dimensionen kurzerhand schrumpfen.


    Wir verbringen die letzten Stunden des Tages wie gewohnt am Strand vor unserem Camp. Unsere Blicke gleiten über den Fjord hinüber zum bereits im Schatten der Nacht versunkenen Serpentine Gletscher, der ein geheimnisvolles, bläuliches Leuchten erzeugt, das aus seinem tiefsten Inneren heraus zu strahlen scheint.
    E
    in seltsamer, großer Vogel schwimmt schwanengleich still und leise an uns vorüber und strandet nur ein paar hundert Meter weiter mit einem sanften Schaukeln am Ufer.
    Er wirkt so unvergleichlich fragil, verletzlich und scheu, dass wir uns so unbewusst wie überflüssig vorsichtig anschleichen und nur noch flüsternd sprechen.
    Vor uns liegt der am schönsten geformte Brocken Eis, den wir je gesehen haben.

  • Vor uns liegt der am schönsten geformte Brocken Eis, den wir je gesehen haben.


    Ich dachte zuerst, ihr habt eine Robbe mit erhobenen Flossen aus dem Eis geschnitzt. Sieht super aus :clab: .


    Kann mir schon vorstellen, dass ihr Angst hattet, als der Gletscher kalbte. Kentern kommt in dem Eiswasser nicht so gut.


    LG,


    Ilona

    • Offizieller Beitrag

    Nun wenigstens schaute die Kamera in die richtige Richtung. ;;NiCKi;:


    Mein Frau hat ja auch den Athabasca Gletscher kalben sehen, ich schaute woanders hin. X(


    Das schönste Foro ist das Letzte. ;;NiCKi;:;:BEifal;;;:BEifal;;;:BEifal;;

  • Bei euch wird es ja nie langweilig. Erst tagelang Regen, nun strahlen blauer Himmel und dann solche Schreckmomente. :schreck: Ich möchte nicht mit euch tauschen. ;;_Fe6__ Und trotzdem finde ich es phantastisch, wie Du berichtest und welche wunderbaren Fotos du uns zeigst. Das letzte ist einfach traumhaft. :!!
    Ich glaube, es sind diese besonderen Momente, die alle Anstrengungen und Ängste komplett in den Hintergrund drängen und bestätigen, dass das, was man tut, richtig ist. Ihr habt euch diese Momente wirklich verdient. ;;NiCKi;:

  • Kann mir schon vorstellen, dass ihr Angst hattet, als der Gletscher kalbte. Kentern kommt in dem Eiswasser nicht so gut.

    War ein echter Schreckmoment, da wir absolut nicht einschätzen konnten, wie hoch die Flutwelle wohl sein würde. Zu allem Überfluß lagen unsere Trockenanzüge natürlich schön verpackt im Camp.

    Mein Frau hat ja auch den Athabasca Gletscher kalben sehen, ich schaute woanders hin. X(

    Wusste gar nicht, das Inlandgletscher auch kalben, dacht, die tauen nur vor sich hin. Interessant...

    Ich glaube, es sind diese besonderen Momente, die alle Anstrengungen und Ängste komplett in den Hintergrund drängen und bestätigen, dass das, was man tut, richtig ist. Ihr habt euch diese Momente wirklich verdient. ;;NiCKi;:

    Danke für die lieben Worte. =)

  • Welch ein geniales Wetter!
    Deine Fotos sind wunderschön und der Text wieder sehr anschaulich.
    Der kalbende Gletscher ist sicherlich ein sehr eindrucksvolles Erlebnis gewesen. Die Spannung, die ihr dabei erlebt habt, kommt sehr gut rüber. Dass du dabei noch ans Fotografieren denken konntest …. :EEK:


    Gruß
    Gundi

Jetzt mitmachen!

Sie haben noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registrieren Sie sich kostenlos und nehmen Sie an unserer Community teil!