24.Juli 2012
Die Nacht war von einer geradezu gespenstischen Stille geprägt, sodass unsere Neugier am Morgen groß ist, was wohl jenseits der dünnen Nylonbahn des Zeltes auf uns warten würde.
Zunächst schlägt uns kalte, feuchtigkeitsgeschwängerte Luft entgegen. Frierend treten wir von einem Fuß auf den anderen, während wir wohlwollend feststellen, das die grauen Wolkenmassen um mehrere Etagen höher als noch in den drei Tagen zuvor angesiedelt sind.
Geheimnisvoll schimmerndes Eis treibt auf dem Fjord und mit ihm kommen Robben bis dicht an unser Ufer heran. Sie sind einerseits sehr scheu, andererseits sind sie aber auch mit einer gesunden Portion Neugier gesegnet, was sie uns, von Gewissenskonflikten geplagt, völlig reglos wie handballgroße Bojen mit schwarz- glänzenden Knopfaugen, argwöhnisch beobachten lässt. Bei der geringsten Annäherung unsererseits, ziehen die Tiere blitzschnell und elegant ihren Kopf ein und entziehen sich lautlos unseren Blicken, bis die Neugier wieder siegt.
Nach dem obligatorischen Müslifrühstück, holen wir eine Mittagsration vom Bärenhang im Wald, schleppen das Boot den Strand hinab, verladen Kamera- und Fotoausrüstung und stechen tatendurstig in See.
Selbstbildnis mit Eiswürfel
Unser Weg führt uns einmal quer über den Harriman Fjord zu einem flachen, felsigen Uferstreifen, der von den Gezeiten zweimal täglich verschlungen und wieder freigegeben wird. Während der Niedrigwasserphase stranden hier hunderte von grazil geformten Eisbergen und ein Strandspaziergang kommt dem Wandeln durch die Galerie eines Bildhauers mit einer überschäumenden Kreativität gleich.
Zwischen den kurzlebigen Kunstwerken liegen kleine, flache Salzwasserbecken, die von toten Bäumen mit bedrohlicher Gestalt umgeben sind. Diese hölzerne Statuen, die an enthauptete Skelette mit geborstenen Knochen erinnern, die sich aber dennoch ihre kerzengerade, aufrechte und stolze Haltung bewahren konnten, sind stumme Zeugen einer Naturkatastrophe, die am Karfreitag des Jahres 1964 über das Land hereinbrach, als hier im Prince William Sound, in der Tiefe des Meeres, die Pazifische und die Nordamerikanische Kontinentalplatte, wie zwei mächtige Titanen, ihre schuppigen Buckel aneinander rieben und dadurch das zweitgrößte je gemessene Erdbeben der Geschichte auslösten. Innerhalb der drei Minuten, die das zerstörerische Spektakel dauerte, sackte der Boden im Harriman Fjord um knappe drei Meter ab. An anderer Stelle im Sound hob sich die Erdkruste stattdessen um bis zu sieben Meter. Als finalen Akt dieser beispiellosen Machtdemonstration der Erdkräfte, jagte eine siebenundsechzig Meter hohe Tsunamiwelle über das Land, verschlang neben einem breiten Küstenstreifen auch die Orte Chenega und Valdez und richtete selbst in Anchorage einen beträchtlichen Schaden an.
Wer in den zurückliegenden Jahren das hübsch gelegene Küstendorf Valdez besucht hat, war genau genommen in “New Valdez“, das nach dem als “Großes Alaska Beben” in die Geschichte eingegangenen Ereignis, an anderer Stelle neu wieder aufgebaut werden musste.
Im Nachhinein stufte man das Karfreitagsbeben von 1964 mit 9,2 auf der viel bemühten Richterskala ein. (Stärker war nur ein Beben in Chile vier Jahre zuvor, das mit 9,5 angegeben wird. Das uns noch allen präsente Japan-Beben von 2011 erreichte 9,0.)
Diese Bäume, vor denen wir nun stehen und die noch immer ihre kahlen Äste dem grauen Himmel entgegen recken, als wären sie in einer Haltung des Flehens um Gnade aus dem Leben gerissen worden, widerstanden der Wucht des Tsunamis.
Dafür machte ihnen das Meerwasser, das seit dem Absinken des Geländes um ihre entblößten Wurzeln spült, den Garaus. Ihre mahnenden Überreste, vom Salz ausgeblichen, mit Muscheln und Algen übersät und mit Seetang behangen, trotzen bis heute den Widrigkeiten dieser unwirklichen Gegend und erinnern an das zerstörerischste Ereignis, das die Natur dieser Landschaft bislang aufbürdete.
Wir verlassen den Strand der toten Bäume und paddeln näher an den Surprise Gletscher heran, der das Ende eines kurzen, trogförmig geformten Seitentals abriegelt. Als sich der Eisstrom in seiner ganzen Pracht präsentiert, bemerken wir mit Freude, dass die Sonne sich anschickt ihr Versprechen einzulösen und dem tristen Himmel, der sich in den letzten Tagen für unbesiegbar hielt, bereits ein großes Loch in den grauen Pelz gebrannt hat, das zusehends größer wird, wie eine beschlagene Scheibe wieder durchsichtig wird, wenn man einen Fön davor hält.
Wir halten respektvollen Abstand zu haushoch aufragenden Brocken aus weißblau schimmernden Gletschereis, die uns mit gemächlichem Tempo entgegen treiben.
In der Bucht vor dem Gletscher tobt das bunte Leben.
Die Möwen haben ihre Stimme wieder erlangt und sorgen lauthals schreiend für reichlich Flugverkehr, die ewig müde wirkenden Pelzrobben dösen träge auf großen, flachen Eisbrocken herum, während die vor Lebensfreude überschäumenden Seeotter Treibeissurfing veranstalten, indem sie eine Scholle erklimmen, sich damit hinaus auf den Fjord tragen lassen, zurück schwimmen und das Spiel von vorn beginnen.
Besonders ans Herz gewachsen ist uns aber eine kleine, schwarzweiß gefiederte Entenart, die ganz vorzüglich schwimmen und tauchen kann, in der Luft eine eher mäßige Figur abgibt, bei der Landung jedoch auf eine sehr komische Art und Weise versagt. Nach dem Motto: “Runter gekommen sind bislang alle!“, legen die Vögel kurz vorm Touch-down einfach ihre Flügel an und plumpsen hilflos vom Himmel, ein anderes Mal stimmt der Anflugwinkel nicht und es kommt beinahe zum Überschlag auf der Wasseroberfläche oder die Tiere schalten vom Flug- sofort in den Tauchmodus, ohne Landung zwischendrin.
Es ist amüsant den kleinen Überlebenskünstlern zuzusehen.
Wir landen an einem schmalen, verblockten Uferstreifen, von dem aus wir einen vorzüglichen Blick auf den Gletscher genießen können.
Wir heben den Kajak aus dem Wasser, stellen uns dahinter in Pose und halten den Moment in einem Foto fest.
Gipfelt doch genau in diesen Augenblick eine Idee, die wir seit über acht Jahren in uns tragen und nie aufgegeben haben: wir würden zu den Gletschern Alaskas mit unserem eigenen Boot reisen, ohne Zeitdruck und allein.
Hier sind wir nun.
Unser Kajak liegt uns zu Füßen, wir scheinen umgeben von schier grenzenloser Einsamkeit und hinter uns ragt die zerklüftete Front des Surprise Gletschers in einen inzwischen zauberhaft blauen Sommerhimmel.
Eine Welle der Zufriedenheit und des Glückes überrollt uns.
Wir haben unser Ziel erreicht.
Wir spüren aber auch Erleichterung. Nach dem Debakel von 2010 haben wir uns unbewusst selbst einen gewissen Erfolgsdruck auferlegt, denn ein erneutes Scheitern hätte das unweigerliche Ende aller Pläne mit sich gebracht. Einen dritten Versuch hätte es wahrscheinlich nie gegeben.
Um den Tag gebührend zu feiern, kochen wir uns einen herzhaften Gletschereintopf. Die Hauptzutat schwimmt massenhaft vor uns im Meer herum und ist garantiert uralt. Um die Frische müssen wir uns trotzdem keine Sorgen machen, die Kühlkette war während der vergangenen tausend Jahre nie unterbrochen.
Dem Genuss wird schon bald Einhalt geboten, denn wir müssen feststellen, dass der von uns auserkorene Lunchplatz keine wirklich gute Wahl darstellt. Jeder noch so kleine Eiswürfel, der von der Gletscherfront in den Fjord bröckelt, verursacht an unserem Ufer einen ungezügelten Anstieg der zementgrauen Brühe.
Wir müssen zusehen, dass wir schleunigst hier verschwinden.
Doch ausgerechnet jetzt scheinen wir geradezu an unserem Strand gefangenen zu sein.
Ein dichter Eisgürtel umgibt das Ufer, sodass es aussichtslos erscheint, überhaupt das Boot zurück ins Wasser zu bringen. Wir stochern noch etwas hilflos mit dem Paddel ein paar Brocken zur Seite, als wir zu allem Überfluss ein Motorengeräusch vernehmen müssen, das nur unserem “Lieblingsausflugsschiff” gehören kann. Jetzt muss es schnell gehen.
Wir werfen den Kajak in eine für ihn viel zu kleine Lücke im Eis und schieben uns ohne Rücksicht auf Verluste durch einen Treibeis-Flash Mob, als säßen wir im kleinsten Eisbrecher der Welt. Der Bug des Kajaks stößt hart gegen die scharfkantigen Brocken, die daraufhin träge zur Seite trudeln und widerwillig den Weg freigeben. Kurze Zeit später können wir uns wohlbehalten aus der eisigen Umklammerung befreien, fahren erleichtert hinaus in offenes Wasser und stoppen erst, als wir mitten in der Bucht sind.
In diesem Moment betritt auch unser Multiturbokatamaran-Goliath die Szene und muss augenblicklich erkennen, dass sich auf seinem Kurs ein Zwei-PS (Paddel-Stärke)-Falt-David in den Weg stellt, der keine Anstalten macht, das Feld zu räumen.
Abrupt wechselt die Klondike Express von Voll- in Standgas, schlägt einen scharfen Haken und verkrümelt sich kleinlaut ins hintere Ende der Bucht.
Wir können ein heimliches Gefühl des Triumphes nicht verleugnen.
Zu fortgeschrittener Stunde kehren wir dem Surprise Gletscher den Rücken und paddeln zu einer waldseegleichen Lagune, die sich unterhalb des Serpentine Gletschers erstreckt und durch einen schmalen, nur wenige Meter breiten Landgürtel vom restlichen Fjord abgetrennt ist.
Wir werden von einem hysterischen Gezeter empfangen, das von den wachtelgroßen, etwas plump wirkenden Austernfischern herrührt, die hier zwischen den Uferfelsen brüten. Das schwarze Federkleid der Vögel verschmilz geradezu mit den dunklen Steinen des Ufers.
Allerdings passierte ihnen in der Vergangenheit ein kleiner Fauxpas: als die Evolution Schnäbel und Augen verteilte, entschieden sich die Oystercatcher für ein knalliges Rot, was die ganze schöne Tarnung mit einem Schlag zu Nichte macht.
Wir fahren zum äußeren Rand der Lagune und genießen traumhafte Blicke über die Weiten des Harriman Fjord.
Der Sommer ist zurück und mit ihm all das warme Licht, die intensiven Farben und Gerüche. Um uns herum erstreckt sich eine friedliche, erhabene Bergwelt, so rein und klar, als wäre sie einem großformatigen Bildband entsprungen.
Wir können uns dieser Landschaft nicht entziehen, fühlen uns einsam, aber nicht allein, können den Blick nicht abwenden, sondern schauen und staunen über Stunden, bis länger werdende Schatten zu einer Heimkehr mahnen.
Wir paddeln zurück in unser Lager und lassen im weichen Licht einer schnell tiefer sinkenden Sonne den Abend am Strand ausklingen.
Ein kleiner Wal zieht schnaufend seinen Weg den Fjord hinauf und wir fragen uns mit einem zwinkernden Auge: “Wie will Alaska diesen Tag noch steigern?”